
Man stelle sich vor, ein Mann wird durch die Straße gejagt, zu Boden gebracht, ringt um Luft und droht, im festen Würgegriff dreier Angreifer zu ersticken. Im Notfall ist dann jeder Mensch zur Nothilfe verpflichtet. Dabei ist es geboten und erlaubt, verhältnismäßig und angemessen einzuschreiten, ohne sich selbst und andere zu gefährden. Wer jetzt einschreitet, zeigt Zivilcourage. Das gilt insbesondere dann, wenn ringsherum Schaulustige die Täter auch noch anfeuern. Denn der Mann hat dunkle Hautfarbe und die Umstehenden empfinden sichtbar Genugtuung, dass es "von denen" mal einen erwischt. Doch der Preis für Zivilcourage ist manchmal kein Bürgerpreis, sondern ein Strafverfahren wegen Strafvereitelung. So geschehen 2019 in Kassel in einem bizarren Fall der Kumpanei zwischen Mitarbeitern eines privaten Wachschutzes, der Polizei, einer absurden Rechtsprechung der Justiz und einer polarisierten Öffentlichkeit "besorgter Bürger".
Alles nur Theater?
Anfang Mai 2019 in Kassel: Herr K. (65 Jahre) ist auf dem Weg durch die Innenstadt. Eine Gewerkschaft hatte zu einer Kundgebung gerufen, an der er zusammen mit einem Bekannten, Herrn T. (78), teilnehmen wollte. Doch für die beiden Herren bleibt noch etwas Zeit, durch die Treppenstraße zu schlendern, die als innerstädtische Fußgängerzone unweit des Hauptbahnhofes mehrere Einzelhandelsgeschäfte mit Laufkundschaft versorgt. In der Mitte des Platzes steht weithin sichtbar ein Obelisk. "Ich war ein Fremdling, und Ihr habt mich beherbergt", ist auf einer güldenen Aufschrift zu lesen, die auf Deutsch, Türkisch, Arabisch und Englisch eine biblische Mahnung an die Vorbeieilenden richtet.
"Ein Serientäter, festhalten!...." riefen drei kräftige Männer, die einem jungen dunkelhäutigen Mann hinterher rannten. Eine Menschenjagd mitten in einer deutschen Fußgängerzone. Und schon brachten sie den Fremden unsanft zu Boden. Zwei der Verfolger in ziviler Kleidung lagen auf dem Fremden, drückten dem Opfer Kehle und Luftröhre ab und pressten den Kopf hart auf den Asphalt. Ein dritter trug eine Uniform. "Ganz großes Theater!", dachten sich Herr K. und Herr T. "realistisch und gut gespielt". Herr K., der lange am Theater gearbeitet hatte, freute sich noch über eine gelungene Form politischer Aktionskunst an einem passenden Ort. Dass das ganze kein Theater war, wurde schnell klar, als der Fremde blau anlief. Die Schreie verstummten. Der Mann bekam keine Luft mehr. Es wurde immer bedrohlicher. Eine Menschenmenge feuerte die Täter mit rassistischen Rufen auch noch an. Jetzt war die Stimmung vollkommen aufgeheizt.
Darf man mutmaßliche Diebe auf offener Straße erwürgen?
Doch Herr K. und Herr T. griffen ein und versuchten verbal auf die Peiniger einzuwirken. Mehrfach baten sie darum, den Mann auf eine andere Art festzuhalten. Doch diese drückten stattdessen immer mehr und immer fester auf den Kehlkopf des Opfers. Es handele sich um einen Serientäter und Flüchtling aus dem Iran, taten die Verfolger kund und drückten Herrn K. und Herrn T. weg. Sie fingen an zu drohen und hinderten Herrn K. und Herrn T. am fotografieren. Das sei nicht erlaubt, sagten sie. Herr K. und Herr T. versuchten Krankenwagen und Polizei zu rufen. Ein paar Fotos konnte Herr K. dennoch machen.
Nach Eintreffen der Polizei wurde auch der Hintergrund der Szene klar: Bei den Verfolgern, die dem jungen Mann so übel mitspielten, handelte es sich um Security-Mitarbeiter. Es ging wohl um ein paar Parfümflakons, welche der besagte Iraner in einem Laden gestohlen haben soll. Die Ladendetektive hätten bereits die Personalien des Mannes aufgenommen, bevor dieser sich losreißen konnte und sie die Verfolgung aufgenommen hätten. Doch dürfen private Wachschutzmitarbeiter deshalb Menschen auf offener Straße erwürgen?
Die Polizei, kein Freund und Helfer
Doch für die Täter wird die Körperverletzung ohne Folgen bleiben. Denn die Polizei zeigte sich auffällig vertraut mit den Security-Mitarbeitern und weigerte sich, gegen diese eine Anzeige aufzunehmen. Im Gegenteil. Ein Beamter fragte noch, warum Herr K. und Herr T. denn Sympathien für einen Serienstraftäter hätten. Zudem ignorierte die Polizei die fortwährenden Beschimpfungen der "besorgten Bürger", welche die Nothilfe für einen Menschen anderer Hautfarbe offenbar genauso in Rage brachte, wie das zuvor erwähnte Mahnmal, welches zur Aufnahmebereitschaft gegenüber Fremden mahnt. "Ihr linken Spinner, nehmt doch das Denkmal mit, das hat in Kassel nicht zu suchen, so ein Schandfleck.", hagelte es auf Herrn K. und Herrn T. ein.
Dass ausgerechnet der Obelisk zur Bühne für diesen Vorfall wurde, war eigentlich nur Zufall, passt aber ins Bild. Denn bei dem Kunstwerk handelt es sich um ein im Zusammenhang mit der Documenta 14 entworfenes Denkmal des nigerianisch-amerikanischen Künstlers Olu Oguibe, welches durch eine Spendenkampagne von Befürworter*innen zunächst ermöglicht, dann aber nach einer heftigen politischen Kontroverse und massiven Anfeindungen von Seiten der AfD erst abgetragen, am Ende aber von seinem ursprünglichen Aufstellungsort an den jetzigen Standort versetzt worden ist. Für ein Stück Straßentheater zum Thema Fremdenfeindlichkeit gäbe es wohl nur wenige Orte, die geeigneter wären.
Herr K. und Herr T. waren empört über die Brutalität der Wachmänner, auch wenn es sich bei dem Opfer um einen Dieb handelte. Doch die Polizei verweigerte sich auch in einem zweiten Anlauf, eine Anzeige gegen die Gewalttäter aufzunehmen. Auf dem zuständigen Polizeirevier tat man kund: "Ihr wollt doch nicht hören, wie das richtige Leben auf der Straße ist! Man muss sich überlegen, für wen man sich einsetzt."
Vom Helfer in der Not zum Angeklagten: Aus Zivilcourage wird versuchte Gefangenenbefreiung
Am Ende wird der Spieß umgedreht: Nach ca. 4 Monaten kommt es doch noch zu einer Anklage, aber nicht gegen die Gewalttäter, sondern gegen Herrn K. und Herrn T. Im Ergebnis brachte das mutige Einschreiten den beiden Herren jeweils eine Vorladung als Beschuldigter und ein Strafverfahren wegen versuchter Strafvereitelung ein. Die Angelegenheit gerät so in die Mühlen der Justiz, und die mahlen bekanntlich nach ihren eigenen Gesetzen.
Was nun folgt, wäre ebenfalls ein Stück für's Theater: Der Staatsanwalt tritt auf, äußert Verständnis für die Angeklagten, rät sogar dazu, das Verfahren einzustellen. Die Richterin rät den angeklagten Herrn K. und Herrn T. eindringlich dazu, dem zuzustimmen. Damit wäre der Fall erledigt. Jedoch hätten Herr K. und Herr T. die Kosten der Inszenierung zu tragen. Das wollten sie nicht. Sie sind ja unschuldig, sie wollten nur helfen.
Insgesamt acht Zeuginnen und Zeugen werden geladen. Eine Bekannte von Herrn K. und Herrn T., die sich ebenfalls auf dem selben Weg zur selben Gewerkschaftsveranstaltung befand, wird später das unangemessene brutale Verhalten der Sicherheitsmitarbeiter bestätigen und ebenso den Eindruck eines kurz bevor stehenden Erstickungstodes des Opfers, als der Sicherheitsmann auf ihm kniete. Auch eine zweite Zeugin wird ähnlich aussagen. Das Opfer wird angeben, dabei erwischt worden zu sein, in einer Parfümerie geklaut zu haben. Ein Wachmann habe ihn ertappt, ihm sei jedoch die Flucht gelungen, als er seinen Ausweis zeigen sollte. Die Sicherheitsleute haben die Verfolgung aufgenommen, ihn eingeholt, ihm das T-Shirt vom Leib gerissen, schließlich zu Boden gebracht. Dann habe er keine Luft mehr bekommen und Angst gehabt. Einer der Sicherheitsleute wird auf die Frage, warum er denn so massiv Gewalt angewendet habe, antworten, dass er eben seinen Job machen müsse und der Dieb sich gewehrt habe. Zwei weitere Wachmänner werden das bestätigen, hätten aber nicht genau gesehen, wer wen wie genau angefasst hätte. Ein Polizist wird schildern, wie er die Situation vorfand. Der Staatsanwalt wird noch einmal Verständnis für die Motivation von Herrn K. und Herrn T. äußern, aber für hohe Geldstrafen plädieren. Die Verteidigerin wird Freispruch fordern, weil zu keinem Zeitpunkt erkennbar gewesen sei, dass die beiden Herren einen Gefangenen befreien wollten. Sie wollten nur helfen.
Im anschließenden Urteil und der ausführlichen Urteilsbegründung wird sich das ganze noch einmal anders lesen: Herr K. und Herr T. werden verurteilt wegen gemeinschaftlich versuchter Strafvereitelung und erhalten eine Geldstrafe von 9.000 und 4.500 Euro. Die Urteilsfindung der vorsitzenden Richterin orientiert sich maßgeblich an den Zeugenaussagen der Wachschutzmitarbeiter. Für das, was zu Gunsten von Herrn K. und Herrn T. spräche, reicht ein einziger Satz: Sie seien zuvor nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten.
Dem Urteil zu Folge sollen Herr K. und Herr T. nun selbst massiv körperlich gegen die Ladendetektive vorgegangen sein. Herr K. hätte versucht, einen der Wachschutzmitarbeiter wegzuziehen, ihm im Handgemenge am Funkgerät gezogen, worauf es dem Ladendieb gelungen sei, einen der Securities ins Bein zu beißen. Herr K. habe zudem einen der Mitarbeiter in den Rücken geschlagen. Beide Wachschutzleute hätten sich in ärztliche Behandlung begeben, einer von ihnen sich sogar eine Woche krankscheiben lassen müssen. Rufe, die aus der Menschenmenge kamen, seien nicht rassistisch gewesen, sondern richteten sich im Gegenteil gegen die Wachschutzmitarbeiter. Von Folter und Nazis sei die Rede gewesen. Auch hätten Herr K. und Herr T. schließlich wissen müssen, dass der Verfolgte eine Straftat begangen hätte, weil die Wachschutzmitarbeiter das ja kundgetan hätten. Herr K. und Herr T. hätten demzufolge zu verhindern gewollt, dass ein Tatverdächtiger festgenommen und strafrechtlich verfolgt werde.
Verfahren abgeschlossen, Fragen offen:
Die Frage aller Fragen, die im Raum steht, ist die: Was wäre wohl passiert, wenn Herr K. und Herr T. nicht so mutig eingegriffen hätten? Wie lange wäre das Opfer der Tortur seiner Peiniger noch ausgesetzt worden, bis es ernsthaft Schaden an seiner Gesundheit genommen hätte oder gar Gefahr für sein Leben bestünde? Wie kann es darüber hinaus sein, dass bei zwei Rentnern, der eine heute Ende 60, der andere 80 Jahre alt, ernsthaft davon ausgegangen wird, dass sie in voller Absicht und mit Vorsatz eine körperliche Auseinandersetzung mit durchtrainierten Wachschutzmitarbeitern anstrebten, um einen Gefangenen zu befreien, den sich gar nicht kannten? In wie fern handelt es sich bei der Bitte, einen auf dem Boden fixierten Ladendieb auf eine andere Art und Weise festzuhalten, um eine vorsätzliche Strafvereitelung, wenn es schließlich doch die späteren Angeklagten waren, welche die Polizei riefen? Wie kann es sein, dass trotz anderslautender Zeug*innenaussagen, die rassistischen Anfeuerungen der Umstehenden im Urteil zu Beschimpfungen gegenüber den Wachschutzmitarbeitern umgedeutet werden? Warum werden Anzeigen gegen die private Security gar nicht erst aufgenommen? Haben private Sicherheitskräfte einen Freibrief für Gewalt, wo doch das Gewaltmonopol eigentlich bei der Polizei liegt? Existiert etwa in Kassel ein eingespieltes Netzwerk aus privatem Wachschutz, Polizei und Justiz, dass sich im Fall der Fälle durch vorgefertigte Zeugenaussagen, unterlassene Dienstpflichten und tendenziöse Gerichtsentscheidungen gegenseitig zuarbeitet? Soll Zivilcourage im Keim erstickt und Widerstand eingeschüchtert werden, dadurch dass sich die Möglichkeit drakonischer Geldstrafen allgemein herumspricht? Wie wäre das Urteil wohl ausgegangen, wenn der mutmaßliche Ladendieb dem ersten äußeren Anschein nach nicht aus dem Ausland käme, sondern einer weißen bürgerlichen hiesigen Mittelschicht zuzuordnen wäre?
Quellen: Die Darstellung der Ereignisse beruht auf der Schilderung eines der beiden mutigen Herren, der mittlerweile schriftlich vorliegenden ausführlichen Urteilsbegründung des Gerichts mit den relevanten Zeugenaussagen, sowie dem Bericht eines unabhängigen Prozessbeobachters.
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